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1159 Ausbildung in Baku

Dieser Beitrag ist ein echtes Gemeinschaftswerk, denn dazu haben die Kameraden Ballwanz, Kästner, Köhler, Müller, Schmieder, Steike und Rusch ihre persönlichen Erinnerungen beigesteuert. Fotos erhielten wir auch von Michael Meiske, der als Hydroakustik-Techniker der Instansetzungsbasis-4 am Baku-Lehrgang teilnahm. 

Veröffentlicht in KSS Broschüre Teil 4

Trifft sich die „alte“ Garde von 1159, also diejenigen, die die Formierung der ersten Besatzungen, die Vorbereitungsausbildung und dann auch die ersten Indienststellungen miterlebt haben, und kommt man nach dem Motto „Weißt Du noch …?“ ins Erzählen, ist das Thema Baku beinahe unumgänglich. Ein ganzes Jahr Ausbildung, dort in Aserbaidschan! Einfach war es nicht, aber schön war es doch – einige schränken ein: zumindest im Nachhinein. Wie es wohl jetzt da unten aussehen mag? Hat es sich wie bei uns verändert? Die Stadt vielleicht schöner, dafür die Menschen aber noch ärmer und weniger herzlich? Wer weiß! Doch blicken wir erst einmal zurück, wie alles anfing mit unserem Lehrgang, so vor knapp 30 Jahren. Schon vor dem Jahreswechsel 1975/76 machte in der 4. Flottille ein Gerücht die Runde: Im kommenden Jahr soll eine größere Gruppe von Berufssoldaten in der UdSSR eine Ausbildung zur 1159-Technik erhalten. Bald wurde es Gewissheit, daß ca. 100 Mann in Baku und etwa 30 Maschinisten in Leningrad diesen Lehrgang absolvieren werden. Lassen wir Leningrad das heutige Petersburg – oft beschrieben und von KSS auch besucht, mal außen vor. Ohne Zweifel war Baku der interessantere Standort. Kaum einer von uns kannte diese Stadt, direkt am Kaspischen Meer gelegen. Es ist die Hauptstadt derAserbaidschanischen Sowjetrepublik und riesige Erdöl-Vorkommen sollte es dort geben, viel mehr wussten wir nicht.

Vorbereitung und Anreise

Die Ausbildungsgruppe wurde zusammengestellt. Die Masse kam von KSS, aber es nahmen auch Offiziere des Kommandos der Volksmarine, Stabsoffiziere der 4. Flottille, Techniker der Fachdienste und der Instandsetzungsbasis und Ausbilder der Lehrbasis teil. Das sollte sich viel später als kluger Schachzug erweisen. Als nämlich 1978 die „Rostock“ in Dienst gestellt wurde und erste Problemchen auftraten, ließ sich vieles auf dem „kleinen“ Dienstweg lösen. Meist reichte ein einfacher Anruf aus – man kannte sich ja. Die Lehrgangsdauer wurde bekannt: Beginn Ende März 1976, die erste Ausbildungsetappe bis September nur intensiv Russisch, Zwischenurlaub im September/Oktober und dann die zweite Etappe mit der fachlichen Ausbildung. Lehrgangsende März 1977- ein ganz schöner Hammer, vor allem auch für die zu Hause gebliebenen Angehörigen! Deshalb wurden mit allen Teilnehmern gründliche Gespräche geführt. Da, wo es familiäre Schwierigkeiten geben konnte, wurden auch die Ehefrauen – es war eher bei einigen jüngeren nötig – mit in diese Aussprachen einbezogen.Keiner machte einen Rückzieher. Nach dem Jahreswechsel begann eine intensive dienstliche und private Vorbereitung.

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Blick über die Bucht von Baku

Was muß mitgenommen werden? Die Dienstkleidung betreffend, gab es da klare Vorgaben. Welche Zivilkleidung ist ratsam? Welches Klima erwartet uns da? Für die persönliche Vorbereitung war der Rat derjenigen Offiziere gefragt, die bereits als Offiziersschüler in Baku studiert hatten. Es würde sehr heiß und die Winter seien relativ mild. Und zusätzliche Verpflegung wäre wichtig, meinten sie. Und gute Zigaretten! Ansonsten – na, Ihr werdet Euch wundern! Vertrauen erweckend klang das nicht gerade. Auf jeden Fall wurden gewaltige Mengen an Konserven, Tütensuppen, Dauerwürsten und Rauchwaren mit in Seesäcken und Koffern gebunkert. Auch die eine oder andere Flasche Hochprozentigen fand ihren Platz. Wörterbücher Russisch nicht zu vergessen. Die Politniks verstauten Unterrichts- und Agitationsmaterial, Bücher und Spiele in großen olivgrünen Metallkisten. Auch das Vervielfältigungsgerät, das bei Betrieb immer einen intensiven Spiritusgeruch verbreitete und das bei der Truppe „Schwindelfelix“ hieß, fehlte nicht. Mitgeführt wurden auch Kassetten-Recorder, die später beim Vokabel-Lernen gute Dienste leisten sollten. Damit nicht genug. In den Wunderkisten landeten auch kleine Geschenke an unsere Gastgeber. So erinnert sich Wolfgang Rusch, daß er damals „im dienstlichen Auftrag“ 12 Bierkrüge aus Eichenholz bastelte und diese mit KSS-Silhouette und Rostocker Wappen aus Messing verzierte.

Zur dienstlichen Vorbereitung gehörte ein gründlicher Gesundheits-Check. Die Zahnärzte der Dienststelle bekam Hochkonjunktur. Die Friseusen schnitten gleich an Bord. Die Stäbe überboten sich mit pingeligen Kontrollen der Bekleidung, Ausrüstung und des Haarschnittes. Ideologisch wurden wir noch einmal auf den „großen Bruder“ eingeschworen.Zuletzt waren noch die derzeitigen Funktionen an geeignete Vertreter zu übergeben. Schließlich sollte zu Hause der Dienst normal weiterlaufen. Und dann, am 27. März 1976 war es so weit: 13 Uhr Abschiedsessen in der O-Messe der Flottille im Beisein des Flottillenchefs, 15.30 Uhr die letzte obligatorische Belehrung und 17 Uhr setzte sich die Bus- und LKW-Kolonne Richtung Berlin in Bewegung.

Noch am gleichen Tag Abfahrt ab Berlin Ostbahnhof. Vermutlich wegen des mitgeführten, umfangreichen persönlichen und dienstlichen Gepäcks war von der Auslandsabteilung des Ministeriums für Nationale Verteidigung die Reise per Eisenbahn geplant worden. Nicht ganz nachvollziehbar war aber, daß Baku in zwei Gruppen angesteuert wurde. Die größere fuhr unter Führung des ACH über Moskau, für eine kleinere unter Leitung des Stabschefs war der Kurs über Kiew abgesteckt. Dabei war den Planern ein dummer Fehler unterlaufen. Sie hatten übersehen, daß der Zug von Kiew nach Baku nur alle zwei Tage fuhr. Aus acht Stunden geplanten Aufenthaltes in Kiew wurden so plötzlich 32. Und das mit unseren damals noch dürftigen Russisch-Kenntnissen und mit wenig Rubeln in der Tasche. Trotzdem wurde es ein Aufenthalt, von dem die Betroffenen noch lange schwärmten. Aber das und auch die Reise-Schilderungen der Moskau-Gruppe passen besser in die Antichronik unserer Kameradschaft, die die lustigen Ereignisse um KSS sammelt, welche leider in die offizielle Chronikschreibung des Truppenteiles nie Eingang fanden. In diesem Heft findet Ihr unter „Amüsantes“ wenigstens zwei Geschichten, die mit Baku im Zusammenhang stehen.

Erdöl-Bohrtum in Süch

Die Reise im grenzüberschreitenden Zug war komfortabel: Reichlich Platz in den reservierten Abteilen, Teppiche im Korridor, Tee ohne Ende mit riesigen Stücken Würfelzucker. Jeder Waggon hatte seine eigene Schaffnerin. Bei der Zugabfahrt stand sie auf dem Trittbrett und hielt eine Signalfahne raus. Das war das Signal für den Lokführer: „Bei mir ist alles ihn Ordnung.“ Die Schaffnerin gab das Bettzeug für die Nacht aus und sammelte es am Morgen wieder ein. Den Tee konnte man bei ihr gegen ein paar Kopeken bestellen. Gerne machte sie ein Schwätzchen mit den Passagieren. Mit uns klappte das leider nicht – unsere mageren Russisch-Kenntnisse waren schuld. Nach einigen vergeblichen Versuchen gab sie auf. Am 28. gegen 10.00 Uhr erreichen wir Brest. Hier erfolgt das Umspuren der Waggons auf die breitere sowjetische Spur. Die Kiewgruppe musste hier aus- und umsteigen.

Während der langen Bahnfahrt stieß uns das erste Mal auf, daß es mit der Gleichberechtigung der Frau in der Sowjetunion so eine Sache war. Baubrigaden an den Eisenbahnstrecken oder auf Straßen bestanden fast ausschließlich aus Frauen. Sie bedienten auch die schweren Presslufthämmer. Nur der mit dem Signalhorn ausgerüstete Aufseher war männlich. Aber wenn man es genau überlegt, war das doch echte Gleichberechtigung, oder? Die Frauen durften sogar diese schwere Arbeit ganz alleine machen! Später dann, schon während der Ausbildung in Baku sollten wir noch öfter auf diese eigenartige Form der Gleichberechtigung stoßen. So wurde zum Beispielein Haus vor der Dienststelle verputzt, indem eine Frauenbrigade mit den Händen den Putz an die Wand warf und ihn dann mit alten Bratpfannen abrieb und glättete. Auch hier war der Polier natürlich männlich. Völlig normal und besonders gut an Markttagen zu beobachten war, daß nach orientalischer Sitte jedes Bäuerlein, Zigarette im Mundwinkel, Hände in den Hosentaschen aber würdevollen Schrittes wie ein Pascha durch die Straßen ging und ein kleines, ausgemergeltes Frauchen mit riesigen Packen behängt und vier Kinder am Rockzipfel mit ehrwürdigem Abstand hinter ihm her trippelte. Aber wir wollen nicht vorprellen. Am 31.03. trafen die Moskaugruppe und am 01.04 mit einem ganzen Tag Verspätung die Kiewgruppe in Baku ein. Uns empfing ein angenehm mildes Klima.

Die Schule

Vom Hauptbahnhof aus ging es per Bus zuerst ein Stück durch die Stadt Baku. Alles kam uns fremd und manches etwas verwahrlost vor: Bahnhof, Straßen,Plätze, Bäume, Blumen. Fremdartig auch die Menschen. Es machte neugierig und beklommen. Nach Passieren des Stadtrandes führte die Route weiter auf der Halbinsel Apscheron ostwärts durch eine ziemlich öde Gegend. Links und rechts der Straße ältere Bohrtürme und die eigenwillig geformten Erdöl-Förderpumpen. Einige zeigten mit bedächtig nickenden Bewegungen an, daß sie noch in Betrieb sind. Die Masse ist aber bereits stillgelegt. Am Endziel der Fahrt empfängt uns eine wenig aufregende Ortschaft namens Süch. Das „Ch“ wird hart gesprochen, etwa so wie in Koch. Hier vereinnahmte uns die – in der wörtlichen Übersetzung – „Kaspische Höhere Seekriegs-Rotbanner-Lehreinrichtung namens S. M. Kirow“, russisch abgekürzt KBBMKY. Da alle entsprechenden Buchstaben auch im lateinischen Alphabet zu finden sind, können wir sogar die deutsche Entsprechung anbieten: KWWMKU. Wenigstens die Schule machte einen guten Eindruck. Neben dem kleinen Ort wirkte sie riesig. In einem sauberen Komplex mit vielen Gebäuden fand sich viel Grün, jeder Baum und Strauch umhegt und liebevoll gegossen. Spätestens bei Durchfahrt des Tores ergaben wir uns in unser Schicksal und harrten gefasst der Dinge, die da kommen sollten.

An der Schule gab es vier Fakultäten. Die erste und die zweite Fakultät war sowjetischen Offizierschülern vorbehalten. Hier wurden Navigationsoffiziere, Ortungsspezialisten und Nachrichtenleute ausgebildet. In der dritten Fakultät waren Studierende aus den sozialistischen Staaten zusammengefasst. Die Studierenden aus demarabischen Raum, wie Algerier, Syrier und Iraker, gehörten zur vierten Fakultät. Da ihre Ausbildung mit harten Valuta bezahlt wurde, ging man mit ihnen um wie mit rohen Eiern. Wir hatten wenig mit ihnen zu tun, von ein paar Fußball-Vergleichen mal abgesehen.

Stabsgebäude der KBBMKY (neuere Aufnahme)

Im Gebäude der dritten Fakultät wohnten zu unserer Zeit außer den Offiziersschülern aus der DDR auch Kubaner und Vietnamesen. Die ersteren ein freundliches, temperamentvolles und immer lärmendes Völkchen. Die fleißig studierenden Vietnamesen bemerkte man kaum. Nur, wenn sie am Wochenende in der Gemeinschaftsküche ihr Essen zubereiteten, erinnerten die für unsere Nasen meist unangenehmen Gerüche, die über den Flur zogen, an ihre Anwesenheit. Die deutschen Offiziersschüler hatten einen Nationalitäten- Ältesten, der während unseres Aufent- haltes dem ACH unterstellt wurde. Das war wohl auch ratsam. Als Nationalitäten-Ältester fungierte Oberleutnant Olaf Dauer und der hätte ja schlecht einen Fregattenkapitän und dazu noch ACH herum kommandieren können. Oder wir hätten uns dafür gerächt, denn Olaf war später in Warnemünde in unserem Truppenteil kurz als Double des Stellvertreters des Stabschef tätig.

Chef unserer Fakultät war ein Aserbaidschaner, Kapitän ersten Ranges Dschafarow. Schnell hatte er seine Spitznamen weg. Der eine lautete kurz „Dschaffi“, der andere „Hans Moser“. Alles an ihm erinnerte an diesen beliebten Wiener Schauspieler: der kleine Wuchs, die etwas korpulente Figur, sein nervöses Gehampel, selbst die nuschlige Aussprache fehlte nicht. Pausenlos hielt er uns Vorträge über die Disziplin, mit der es seiner Meinung nach bei unserer Truppe immer mangelte. Dabei wiederholte er bis zum Erbrechen kleine Disziplinarverstöße aus unserer Anfangszeit in Baku, die damals meist der Unkenntnis der Sprache und der Landessitten geschuldet waren. Einmal hatte ihn unser ACH gebeten, eine Stunde Vortrag über Aserbaidschan vor dem gesamten Personal zu halten. Da es in der Unterkunft keinen geeigneten Raum für hundert Mann gab, wurden Stühle im Flur aufgestellt. Ein Dia-Projektor stand bereit. Wir harrten erwartungsvoll der Dinge, die da kommen sollten. Fünfzehn Minuten und etwa zehn Dias hielt er durch, dann war er wieder bei „Chuliganstwo“ und „Pianstwo“ (Sauferei) der Ekipash gelandet. Dieses Thema beschäftigte ihn dann die restlichen 45 Minuten. Aserbaidschan war dabei glatt auf der Strecke geblieben.

Im Sprachgebrauch unserer sowjetischen Vorgesetzten waren wir von Anfang an die „Ekipash“, also die „Besatzung“. Nach den Dienstvorschriften der Sowjetflotte gab es auch für uns zwei Studienränge: Hörer und Kursanten. Zur ersten Gruppe gehörten alle Schirmmützenträger ab Dienstgrad Obermeister, zur zweiten alles was Exkragen trug und die Meister. Irgendwie war das an die Einstufung der Offiziersschüler angelehnt. Die Kursanten mussten mit einigen Nachteilen fertig werden: Teilnahme am Frühsport, Marschieren zum Unterricht, volle Teilnahme an der Truppenverpflegung. Ein entscheidender Unterschied auch beim Landgang: Hörer durften täglich nach Dienst an Land gehen, befristet bis 24 Uhr.Kursanten erhielten nur mittwochs bis 22 Uhr Ausgang und am Wochenende, dann bis 24 Uhr. Wir hatten einige Berufssoldaten mit, die in den Kursantenstatus fielen. Die liefen – unterstützt vom ACH – gegen diese Regelung Sturm. Aber die sowjetische Seite blieb in dieser Frage bis zum Schluß hartleibig.

Unterkunftsgebäude der KBBMKY (Foto von außerhalb der Schule)

Einmal hatte man über Nacht auf unserem Flur Mozambikis (oder Angolaner?) einquartiert. Man merkte ihnen an, daß diese Art weißer Zivilisation für sie noch etwas völlig Neues war. Scheue Blicke streiften unsere Uniformen. Ehrfurchtsvoll, fast ängstlich machte man uns Platz. Gleichschritt wurde ihnen gerade erst beigebracht. Die Nacht darauf eine lustige Episode. Dazu muß man vorausschicken, daß die Toilettentüren keine Klinken, sondern so eine Art Schnapper hatten, die in den Türrahmen einrasteten. Waren die zu hart eingestellt, ließ sich die Tür nicht mehr öffnen. Nun hatte so ein schwarzer Mann nachts wohl ein Bedürfnis gehabt. Den Ort hatte er gefunden, den Lichtschalter nicht. Und als er nach seinem Geschäft die enge, dunkle Kabine verlassen wollte, war er gar eingesperrt. Wir wurden durch lautes Wummern an die Tür und schon hysterische Schreie geweckt. Da hatte wohl wieder ein Schnapper versagt! Dieter Kästner zog mit einem großen Küchen- messer los, das einzige Mittel, um von außen den Schnapper einzudrücken und so die Tür zu öffnen. Die schreckgeweiteten Augen des Opfers kann man sich wohl vorstellen, als plötzlich das Licht anging, die Tür aufsprang und weißer Mann mit langem Messer vor ihm stand. Da wir schon einmal bei Toiletten angelangt sind: Eine für uns ungewohnte Sitte war, daß gebrauchtes Toilettenpapier nicht weg- gespült, sondern in einem dem Toilettenbecken abgelegt wurde. Am Anfang war es ganz ratsam, bei seinem Geschäft den Blick nicht gerade auf dieses unappetitliche Behältnis zu richten. Man hätte sich möglicherweise nicht nur unten geleert. Später war man daran gewöhnt. Ob nach unserer Rückkehr jemand diese Sitte auch bei sich zu Hause eingeführt hat, ist nicht bekannt.

Je nach Dienstgrad und Dienststellung war die Unterbringung geregelt. Nur der ACH hatte ein eigenes Zimmer. Zu zweit waren seine Stellvertreter und die Kapitänsdienstgrade untergebracht. Alles andere bewohnte Drei- bzw. Vier-Mann-Zimmer. Alkohol in der Dienststelle war zwar streng verboten, aber immer vorhanden. Die Finger lassen, sollte man von „Agdam“, auch „Kursantenkognak“ genannt. Dieser billige Portwein war äußerst hinterhältig. Solange man saß, konnte man scheinbar ohne Nebenwirkung Gläschen für Gläschen vertilgen. Aberwehe, man versuchte aufzustehen. Sofort zog Agdams Geist einem die Beine weg und setzte sich gleichzeitig als wirbelnder Nebel im Kopf fest. Tat das weh, wenn sich am nächsten Morgen der Nebellangsam lichtete! Es gab aber auch wirklich gute Sachen zu trinken. Armenischer Kognak, russischer Wodka der Marken „Moskowskaja“ oder „Stolitschnaja“ und sowjetischer Sekt waren über jede Kritik erhaben. Köstlich auch der preiswerte Rotwein „Kemschirin“.

In der Anfangszeit gab es mit einem unserer Kursantenzimmer besonderen Ärger. Die Jungs hatten sich zu eng mit „Agdam“ angefreundet und genossen zu oft in der Dienststelle und an Land dessen Anwesenheit. Als auch Ermahnungen und Strafen nichtsfruchteten, griff der ACH zu einem rigorosen Mittel. Ein Zimmerbewohner wurde umquartiert und Meister H. bekam den militärischen und Parteiauftrag, als neuer Zimmerältester für Ordnung zu sorgen. Am nächsten Wochenende kam auch er zusammen mit den anderen arg bezecht von Land. Vom Chef deshalb grimmig zur Rede gestellt, rechtfertigte sich Meister H. damit, daß er erst einmal das Vertrauen der Männer erwerben wollte – mit „Agdam“. Die Folgen des Genusses in der prallen Sonne bei über 30 Grad im Schatten hätte er wohl nicht richtig bedacht. Ganz ohne disziplinarische Folgen blieb dieses missglückte Experiment für Meister H. nicht. Aber allmählich hielt sich dann auch das besagte Zimmer an die übliche Norm.

Gegessen wurde in der „Stolowaja“. An den ungewohnten Duft, leicht hammelunterlegt, gewöhnte man sich mit der Zeit. Vorsicht geboten war bei Gewürzen und ketchupartigen Saucen. Mit dem eigenartig penetranten Geschmack des Kinsakrautesließ sich jedes Essen versauen. Das in allen südlichen Sowjetrepubliken beliebte Adschika, mit den Hauptbestandteilen Knoblauch, Pepperoni, Salz und Pfeffer ließ einen selbst nach dem Genuß geringster Mengen krampfhaft nach Luft schnappen. Die Hörer nahmen – gegen Bezahlung – nur am Mittagessen teil. Für sie gab es eine Art Bestellsystem. Man konnte vorher zwischen 2-3 Speisen auswählen. Ansonsten waren sie, was Frühstück, Abendbrot und am Wochenende auch das Mittagessen betraf, Selbstverpfleger. Dazu hatten sich kleine Grüppchen gebildet, die in gemeinsame Kassen einzahlten und den Einkauf organisierten. Zur Verfügung für den individuellen Konsum standen das Verpflegungsgeld und ein Teil der Dienstbezüge, der in Rubel ausgezahlt wurde. Härter traf es die Kursanten, die an der Truppenverpflegung teilnehmen mussten und so öfter Bekanntschaft mit Kascha und Hammelfleisch machten. Doppelt bestraft, gab es für sie auch kein Verpflegungsgeld. Für die meisten Teilnehmer unseres Lehrganges traf zu, daß die Baku-Zeit eine echte Schlankheitskur war. Verpflegung, Klima und Strapazen des Studiums führten zu sichtbarem Abbau vorher vorhandener Speckpölsterchen. Es waren bestimmt nicht die Rekorde, aber Kamerad Rusch erinnert sich an 10 Kg und Kamerad Ballwanz gar an 18 Kg Gewichtsverlust.

Der Unterricht

Hydroakustiker-Klasse

Am 5. April startete der Russisch-Unterricht. Erwar anstrengend, denn es gab in der ersten Etappe, die fast ein halbes Jahr andauern sollte, keine Abwechslung durch andere Fächer. Zudem waren die Klassen so klein, daß man nicht in einer Masse untertauchen konnte. Wie auf dem Präsentierteller saßen wir in einer, höchstens zwei Reihen vor der Lehrerin. Die 1.WO-Klasse wurde um die junge, hübsche und immer lustige Vera beneidet. Vor den sieben Mann der ACH-Gruppe saß die strenge

Valentina Michailowna – so wollte sie von uns angeredet werden. Sie war ein mütterlicher Typ, der die Jugend schon deutlich hinter sich gelassen hatte. Vermutlich öfterer Genuß von süßen Sahnetörtchen formte deutliche Anlagen zur Matrjoschka-Figur. Stets erschien sie mit sorgfältigem Makeup zum Unterricht. Als im Sommer das Thermometer schon vor elf Uhr die 30 Grad überschritt und mittags erst bei knapp 40 Grad halt machte, half ihr auch pausenloses Fächern mit irgendwelchem Papier nicht. Kleine Schweißperlchen bildeten sich zuerst über der Oberlippe und kämpften sichdann bis zur Stirn nach oben. Der morgendliche, bestimmt sehr zeitaufwendige Anstrich begann allmählich zu zerfließen.

Im Unterricht gab es bei ihr keinen Pardon. Deutsch sprechen wurde sofort unterbunden. Jeder Unterricht begann mit sogenannten Nowosti (Neuigkeiten). Jeder musste irgendetwas zum Besten geben, was er am Vortag erlebt, im Fernsehen aufgeschnappt oder in der Zeitung gelesen hatte. Man konnte Aufwand sparen, wenn man etwas gefunden hatte, was fast jeden Tag mit gleichem Text veröffentlicht wurde. Raketenstarts waren ein solches Thema. Fast täglich wurde eine Rakete der Kosmos-Reihe getestet oder ein Sputnik gestartet. Es änderte sich nur immer die laufende Nummer, also brauchte man in seinem Text zum Beispiel nur Kosmos 273 durch Kosmos 274 ersetzen und schon hatte man seine aktuelle Nowosti zusammen.

Ganz unfehlbar war Valentina Michailowna auch nicht. Wir stritten uns einmal mit ihr wegen Lehnwörtern. Die russische Sprache hat einige deutsche Wörter einfach übernommen. Beispiele sind Rucksack, Schlagbaum, Landschaft oder Butterbrot. Nur die Betonung ist anders. Sie liegt im russischen immer auf der letzten Silbe. Nun wollte uns Valentina einreden, daß Butterbrot ein typisches französisches Lehnwort sei. Unbeugsam gegenüber siebenfach vorgetragenen Gegenargumenten blieb sie dabei: Butterbrot ist französisch! Konjez – Ende!

Eigentlich vermittelten die Lehrerinnen nur die Grammatik und verbesserte uns. Ansonsten waren immer wir Schüler in Aktion. Ständig wurde man aufgefordert, irgend etwas zu erzählen. Da kamen anfangs die lustigsten Sachen zusammen. Ungläubig schaute Valentina Michailowna auf Günter Senf, der ihr gerade vertellte, daß er in Warnemünde zuHause ist und dort direkt am Strand in einem Schrank wohnt. Dabei hatte er nur die Vokabeln Dom (Haus) und Schkaf (Schrank) durcheinander gebracht.

Letzten Endes erfüllten dieser intensive Unterricht, das gemeinsame Lernen im Selbststudium, das Üben in der Freizeit und die Trainings während der Landgänge ihren Zweck. Einige der Ledigen unter uns beherzigten die alte Weisheit, daß man eine Fremdsprache am besten auf den Kopfkissen der Töchter des Landes erlernt. Mit all diesen Methoden wuchs unser Wortschatz allmählich. Die Grammatik verbesserte sich, wir konnten zuhören, verstehen und uns verständlich machen. Jeder Einkauf in der Stadt oder im „Magasin“ nahe der Dienststelle, jede Bierbestellung am Kiosk, jeder Schwatz mit dem Taxifahrer machte uns sicherer. Mit gutem Gewissen konnten wir so der zweiten Etappe unserer Ausbildung, dem Fachunterricht, entgegen sehen.

Mädchenturm – Wahrzeichen von Baku

Aber vorher gab es endlich Urlaub! Der 15. September war der letzte Unterrichtstag. Diesmal keine endlose Eisenbahnfahrt – nein, am 16. nachts 02.00 Uhr Abflug aus Baku und ab Moskau sogar weiter mit der Interflug. Wie ein Lauffeuer sprach es sich herum: Die haben Radeberger!!! Als die Crew mitbekam, wie lange wir gutes Bier entbehrt hatten, wurde jegliche Limitierung aufgehoben. Bei der Landung in Berlin-Schönefeld hatte die Maschine keinen der wertvollen Tropfen mehr an Bord und die Stewardessen werden uns und diesen lustigen Flug wohl noch lange in guter Erinnerung behalten haben. Verständlicherweise war die Stimmung auf dem Rückflug nach Baku dann weniger euphorisch.

Nach dem Urlaub stießen noch einige Baku-Absolventen zu uns, deren Einsatz auf 1159 vorgesehen war und die den Russisch-Unterricht nicht nötig hatten. Für die nun folgenden sechs Monate Fachunterricht wurden die Lehrgruppen streng nach Laufbahnen neu zusammengestellt, Voraussetzung für eine intensive Spezial-Ausbildung. Lediglich die Gruppe in der ACH und seine Stellvertreter sowie die Führung der zukünftigen Schiffe eingeteilt waren, erhielt einen Überblick über die gesamte Bewaffnung, die Navigations-Ortungs- und Nachrichtentechnik von 1159 und deren Einsatzgrundsätze. In der Ekipash wurde gebüffelt, was das Zeug hielt: Gerätekunde, Prinzipschaltbilder, Stromkreise, Fehlerquellen und –suche. Fast alle Anlagen und Geräte waren an der Schule vorhanden und konnten auch in Funktion gesetzt werden. Neben theoretischer Ausbildung war so auch immer der Praxisbezug gegeben.

Die meisten Lehrer waren erfahren, geduldig und immer bereit, über den eigentlichen Unterricht hinaus zu helfen. So fanden während des Selbststudiums am Nachmittag viele Konsultationen statt, in denen das im Unterricht vermittelte Wissen vertieft und gefestigt wurde. Besonders intensiv war die zusätzliche Unterstützung vor den Abschlussprüfungen. Nicht nur wir waren an guten Ergebnissen interessiert. Es war wohl auch eine selbstverständliche Pflicht und Ehre für den Lehrkörper, uns auf 1159 bestens vorbereitet in die Heimat zu entlassen. Zwischen einigen älteren Angehörigen unserer Ekipash, oft dienstgradgleich mit dem Unterrichtenden, und manchen Lehrern entwickelten sich Freundschaften, die die eigentliche Lehrgangszeit noch lange überdauern sollten. Natürlich gab es unter den Ausbildern auch einige schwarze Schafe.Einer der Hydroakustik-Lehrer stand teilweise neben dem fachlichen Stoff, dafüraber öfter unter anderem Stoff. Da er seine Alkoholfahne durch kräftigen Knoblauchgenuß zu tarnen versuchte, war es ratsam, ihm nicht zu nahe zu kommen. Aber auch er sorgte für gute Prüfungsnoten in seiner Klasse. Er gab die Prüfungsfragen vorher bekannt und legte bei der Prüfung die Umschläge mit den Fragen in die entsprechende Reihenfolge.

Eine fragwürdig lustige Begebenheit gab es im Funkmeß-Unterricht. Gelehrt wurde auch die aktive Störstation „Krab“, mit der leider die KSS 1159 dann doch nicht ausgerüstet waren. Der Lehrer war von seiner Technik so begeistert, daß er sofort auf den Wunsch seiner Schüler einging, die Wirksamkeit der Anlage praktisch vorzuführen. Zuersttat er das mit der schuleigenen Station „Don“. Beeindruckt vom Erfolg bestürmten ihn seine Zuschauer, gleich noch eine andere aktiv arbeitende Anlage zu suchen und zu stören. Das tat er dann auch. Die Folge war eine kurz darauf einsetzende Untersuchung. Da hatte doch jemand die Flughafen-Anlage von Baku kurzzeitig fast außer Betrieb gesetzt. Der enthusiastische Lehrer muß für seine Tat wohl hart zur Verantwortung gezogen worden sein, denn sein Verhältnis zur Klasse war für längere Zeit äußerst getrübt.

Fast hätte es bei unserer Ausbildung ein sogenanntes „Besonderes Vorkommnis“ gegeben. Das Fehlen einiger Codescheiben der Freund-Feind-Kennanlage wurde Kapitänleutnant Rusch angelastet. Was war geschehen? Er war verantwortlich, für seine Klasse die Unterrichts-Unterlagen abzuholen, die einer Geheimhaltungsstufe unterlagen. Beim Empfang der Coden und Filter für die praktische Arbeit an der FFK-Anlage stellte er fest, daß nicht alle Code-Scheiben vollzählig waren. Das teilte er dem VS-Stellenleiter mit. „Melotsch (Kleinigkeit)“, antwortete dieser. Das sei schon immer so gewesen. Mehr Scheiben gehörten hier nicht zum Komplekt. Leider gab sich Kamerad Rusch damit zufrieden. Im Laufe der Zeit bemerkte auch ein Fachlehrer diesen Umstand und machte berechtigt ein Riesenfaß auf. Der VS-Stellenleiter trat die Flucht nach vorn an und machte den Empfänger für den Verlust verantwortlich. Es folgten Untersuchungen, Befragungen und Aussprachen. Es war zwar in der Klasse bekannt, daß der Verlust dem VS-Stellenleiter angezeigt worden war, aber es stand Aussage gegen Aussage. Schließlich entsann sich einer unserer Baku-Absolventen, daß er am Schlüsselbund einiger Offiziersschüler Scheiben gesehen hätte, die den fehlenden sehr ähnelten. So klärte sich dann auch der Fall auf. Etwas unbedarft, was Wachsamkeit und Geheimhaltung betraf, hatten einige der Offiziersschüler während ihrer Ausbildung die interessanten GVS-Codes einfach einbehalten und niemand hatte es registriert. So kam unserMann glücklicherweise ungeschoren davon.

Die Stadt Baku und ihre Menschen

Denkmal der 26 Bakuer Kommissare

Wenn der Ort Süch mit seiner KBBMKY auch etwas außerhalb lag, so gehörte er doch zum Großraum Baku. Wie eine spitze Nase ragt etwa auf 40 Grad nördlicher Breite von der Westküste aus die Halbinsel Apscheron in das Kaspische Meer. Dort wo die Südküste der Halbinsel mit dem Festland einen sanften Bogen in südwestlicher Richtung und damit eine Meeresbucht bildet, liegt, landeinwärts leicht an- steigend die aserbaid- schanische Hauptstadt. Über die Herkunft des streiten sich die Gelehrten. Manche führen ihn auf das Volk der Bakaner zurück, die in uralten Zeiten die Halbinsel Apscheron 18 besiedelt haben sollen. Andere leiten Baku als „Stadt der Winde“ nach einer alten, längst nicht mehr gebräuchlichen Sprache ab.

Ausgrabungen haben bewiesen, daß dieser Ort schon lange vor der Zeitenwende besiedelt war und daß man bereits im 8. Jahrhundert austretendes Erdöl und Erdgas für mystische Zwecke aber auch für Heizung und Beleuchtung nutzte. Im 12. Jahrhundert war Baku die Hauptstadt des Volkes der Schirwanschachen (nie gehört, steht so aber in einem Stadtplan). Aus dieser Zeit stammen die Stadtbefestigungen und viele historische Gebäude. Ihre Bedeutung verdankt die Stadt auch dem Hafen, der sich im Laufe der Zeit zum bedeutendsten im Kaspischen Meer mausern sollte. Ab dem 18. Jahrhundert bestimmte das Erdöl die Entwicklung. Die schachbrettartige Anlage des Stadtzentrums mit den sich rechtwinklig kreuzenden Straßen weist auf einen Entwicklungssprung im 19. Jahrhundert hin. 1917 hatte in Baku die Sowjetmacht gesiegt. Mit Hilfe ausländischer Interventen – besonders die Engländer taten sich unrühmlich hervor – wurde die Stadt 1918 durch die Weißen zurückerobert. In diese Zeit fiel die Gefangennahme, Folterung und Ermordung der 26 roten Kommissare, an die ein Denkmal erinnert, daß bei vielen Anlässen bei den Einwohnern der Stadt eine besondere Rolle spielt. Ab 1920 war Baku dann wieder rot. Zu unserer Zeit hatte die Stadt mehr als 1,5 Millionen Einwohner.

Sensation – Schnee in Baku

Kaspisches Meer und der nahe Kaukasus konnten das typische Landklima nicht sonderlich beeinflussen. Schon im Frühling wurde es heiß.In den trockenen Sommern kletterte das Thermometer bis kurz unter die 40-Grad-Grenze. Dem kurzen Herbst folgte ein relativ milder, wegen Wind und Niederschlägen aber ungemütlicher Winter. Zum Jahresanfang 1977 erlebte Baku eine böse Überraschung: Schnee! Auf dieses Ereignis war niemand vorbereitet, am wenigsten die LKW’s, die für die Versorgung der Stadt und natürlich auch der Schule unentbehrlich waren. Profil auf den Reifen war unbekannt. Das Gelände zwischen Stadt und Schule war leicht hügelig. Der Verkehr brach zusammen. Als es am schlimmsten war, mussten Kettenfahrzeuge der Armee die Versorgungsaufgaben übernehmen. Die Armee war es schließlich auch, die die Straßen wieder passierbar machte. Fast eine Woche dauerte dieser Zustand an. Endlich taute es, und innerhalb von Stunden waren der weiße Bild: Sensation – Schnee in Baku Horror verschwunden und die die Straßen wieder passierbar. Warum sollte man sich jetzt eigentlich noch um neue Reifen bemühen? Und so ging das Leben den gewohnten Trott weiter.

Den Neuankömmling fasziniert Baku sofort durch seine Gegensätze: Neubauviertel und orientalische Altstadt, moderne Bauten, gleich daneben alte Festung, Karawanserei und Mädchenturm, pikfeine UBahn, klapprige LKW’s und Eselskarren, hier Minirock, dort muslimischer Schleier, eine wundervolle, grüne Uferpromenade, an die bei ungünstigem Wind leider ölverschmutzte Wellen schwappen, der Geruch vom Schaschlyk-Stand vermischt mit dem von Erdöl, richtige Warenhäuser und orientalischer Basar, moderne Raffinerien und uraltes Handwerk am Stadtrand, protzige Regierungs- und Parteigebäude und Minarette alter Moscheen – alles prallte in dieser Stadt aufeinander. Genau so bunt wie die Stadt auch ihre Bevölkerung. Die Masse natürlich Aserbaidschaner, von der Anzahl her dicht gefolgt von den Russen. Vielleicht war esnicht die ganz große Liebe, aber man kam gut miteinander aus. Das galt auch für all die anderen Vertreter verschiedenster Nationalitäten, die das Völkergemisch vervollständigten. Die meisten hattedie florierende Erdöl-Industrie mit ihren relativ guten Verdienstmöglichkeiten hierher gelockt. Andere – vor allem junge Menschen – die Universität.

Leninpalast (Kulturpalast)

Unsere erste Bekanntschaft mit Baku machten wir bei einem Gruppenlandgang unter Führung einer Russisch-Lehrerin. Über den Vorort Achmedli und am Nisami-Park vorbei gelangte der Bus auf einer mehrspurigen Straße, den Prospekt der Erdöl-Arbeiter, zum Leninplatz. Hier begann der Rundgang. Am Platz selbst fallen das Lenin-Denkmal und repräsentative Regierungs- und Parteigebäude auf und an seiner Westseite das neu erbaute Intourist-Hotel. Zum Wasser hin säumt die Uferpromenade den weiter in südwestliche Richtung der Meeresbucht folgenden Prospekt. Für die Promenade ist aber erst auf dem Rückweg Zeit eingeplant. Jetzt geht es ein Stück an der Straßenfassade des Hotels entlang, dann biegen wir nach rechts in eine Straße ein, die eigenartigerweise den Namen Leutnant Schmidt trägt. Linker Hand zeigt uns die Lehrerin einen Bahnhof der Metro. Rechts liegt ein kleiner, sehr gepflegter Park, in dessen Mitte das Denkmal für die ermordeten 26 Kommissare steht. Zwei Brautpaare legen gerade Blumen nieder. Eine Pioniergruppe lauscht den Erklärungen ihres Leiters. Auch wir erfahren ausführlich die geschichtlichen Hintergründe dieses Mahnmals. Weiter geht es am Leninpalast (Kulturpalast) mit seiner futuristischen Fassade vorbei bis zum Achundow-Theater und dann westwärts zum zentralen Warenhaus (ZUM) und zum Markt . Wir stoßen auf den Rand der Altstadt. Bevor die Festung und das Wahrzeichen Bakus – der Mädchenturm – erreicht sind, werden wir noch vor der Altstadt gewarnt. Tagsüber solle man sie nie allein und nachts lieber gar nicht betreten. Raubüberfälle seien bereits vorgekommen. Der Mädchenturm trägt seinen Namen nach einer Sage: Eine Schöne, die von ihren Eltern gegen ihren Willen mit einem Greis verheiratet werden sollte, aber schon lange einen – natürlich auch – schönen Jüngling liebte, stürzte sich von diesem Turm auf die Klippen, die von den Wellen des Kaspischen Meeres  umspült wurden. Na, ja! Für uns war eigentlich beeindruckender, wie dramatisch – wenn die Sage denn stimmt – der Spiegel des Kaspischen Meeres seit dieser Zeit gesunken sein muß, denn bis zum Wasser ist es ein ganzes Stück, wie wir beim Weitergehen feststellen. Schließlich erreichen wir am Platz Asnefti (was wohl eine Abkürzung für Aserbaidschanisches Erdöl sein könnte) wieder die Uferpromenade. Sie ist fast zwei Kilometer lang und wirklich ein Schmuckstück! Durch üppiges Grün schlängeln sich an kleinen Teichen und Springbrunnen vorbei schmale Wege. Palmen und eigenwillige Pavillons lenken den Blick auf sich. Schaschlyk-Stände, Teestuben und Bänke an schattigen Plätzen laden zum Verweilen ein. Auch wir gönnen unseren Füßen eine Pause und unseren trockenen Kehlen ein Glas mit dem aromatischen, stark gesüßtem Getränk. An einem anderen Tisch umringen ausnahmslos männliche Zuschauer zwei andere Männer. Würfel rollen und danach werden Holzscheiben, ähnlich wie wir sie beim Mühlespiel verwenden über ein mit kunstvollen Intarsien geschmücktes Brett geschoben. Tscheschbesch hieße dieses Spiel, wird uns erklärt. Es wird noch Wochen brauchen, bis die Interessierten unter uns das System begriffen haben. Aber jetzt geht es erst einmal mit dem Bus zurück zur Schule. Wir werden noch genug Gelegenheit haben, alleine die Stadt ausführlich zu erkunden.

Reichhaltig auch das kulturelle Angebot in Baku. Manch einer von uns hat hier seine erste Ballettaufführung erlebt, so zum Beispiel „Schwanensee“, perfekt inszeniert und mit erstklassiger Besetzung. Das mit dem Mädchenturm verbundene Drama war ebenfalls als Ballett zu sehen. Aufmerksam wurden die Programm-Ankündigungen des Kulturpalastes studiert. Die Interessenten in Listen zu erfassen und das Besorgen der Karten war Sache der PV’s.

Während der Landgänge lernte man die verschiedensten Menschen kennen. In der Mehrzahl verliefen die Begegnungen herzlich und freundschaftlich, kleine Pannen eingeschlossen. Als unsere Sprachkenntnisse noch dürftig waren, passierte dem Stabschef folgendes: In einem Geschäft kam er mit einem Verkäufer ins Gespräch, der in der DDR gedient hatte. Wie war es dort? „Skutschno!“ war die Antwort. Ein unbekanntes Wort, aber wenn man die Höflichkeit und Gastfreundschaft der Einheimischen bedenkt, musste das wohl ein hohes Lob sein. „Und wie ist es hier?“ fragte der Aserbaidschaner. Auch „skutschno“, antwortete der Stabschef. Das Gesicht des Verkäufers verfinsterte sich, die Bedienung des Kunden wurde eingestellt. Zurück in der Schule löste das Wörterbuch das Rätsel. Skutschno hieß langweilig.

Manchmal kam man auch nachdenklich von Land und wir diskutierten dann über das Erlebte. So zum Beispiel, als einige von uns bei einem Gläschen Wein mit einer Gruppe Juden ins Gespräch gekommen waren. Sollten sie nun nach Israel auswandern oder nicht? Seit kurzem war das offiziell möglich. „Was meint ihr denn als Deutsche dazu?“Gegenfragen: „Werdet ihr hier verfolgt? Hungert ihr?“ „Nein, verfolgt nicht gerade, aber manchmalgefrozzelt oder beleidigt. Hunger? Nein, wir haben Arbeit und verdienen ausreichend.“ „Warum also auswandern?“ „Na, vielleicht geht es uns in Israel doch besser, vielleicht aber auch nicht, denn es gibt Gerüchte, daß einige der Auswanderer unter großen Schwierigkeiten schon enttäuscht zurückgekehrt sind.“ Dann erzählen sie uns einen Witz. Besser kann man ihr Dilemma kaum wiedergeben: Im Schwarzen Meer begegnen sich zwei Dampfer voller Juden. Der eine beladen mit Auswanderern Richtung Israel, auf dem anderen Rückkehrer. Als die beiden Schiffe in Sichtweite aneinander vorbeifahren, zeigt jede Gruppe der anderen einen Vogel.

Regierungsgebäude am Leninplatz

In Einzelfällen begegnete uns damals schon ungesunderNationalismus. Sicher hatte darauf Einfluß, daß Aserbaidschan selbst etwa sechs Millionen Einwohner hat, aber weit mehr Aserbaidschaner im Iran leben. Familienbande bestanden noch und der Schmuggel über die unwegsame, schwer zu kontrollierende Grenze blühte. Auch Glaubensfragen mögen bei religiösen Fanatikern eine Rolle gespielt haben. Und schließlich würde man ja von den Russen unterdrückt und ausgebeutet. Beispiele, „die man gehört hätte“, wurden genannt. Fragte man nach der Quelle bekam man in der Regel westliche Radiostationen aufgezählt, die in russischer und aserbaidschanischer Sprache sendeten. Im Namen von Freiheit, Demokratie und Menschenrechten wurde pausenlos gegen die Zentralmacht und gegen angeblich bevorteilte Nachbarvölker zu Felde gezogen. Im kalten Krieg war jedes Mittel recht, auch und vor allem das Schüren von Zwistigkeiten zwischen den Nationalitäten. Als nach dem Zusammenbruch der UdSSR der Nationalismus in vielen ehemaligen Sowjetrepubliken blühte und teilweise in blutigen Kämpfen gipfelte, tat der Westen entsetzt und wusch seine Hände in Unschuld. Nein, er hatte keine Mitschuld an den Gemetzeln, nur die jahrzehntelange kommunistische Unterdrückung und die daraus resultierende Verbitterung der Menschen sei Ursache dieser Feindschaften. Abgesehen von einigen Eiferern – wir hatten noch das friedliche Miteinander unter den verschiedensten Nationen in der Sowjetunion miterlebt. Daß es einmal so weit kommen würde, daß sich Aserbaidschaner und Armenier um das Autonome Gebiet Berg Karabach gegenseitig die Köpfe einschlugen, das wäre damals unvorstellbar gewesen.

Vor Kriminalität in der Altstadt hatte man uns bereits gewarnt. Wir respektierten diesen Hinweis. Ein anderes Erlebnis, was uns besonders lange Zeit beschäftigte, hatte sich während eines dienstlichen Landganges ereignet. Auf dem Hauptpostamt war für einen unserer Mitkämpfer ein Paket von zu Hause eingetroffen. Zusammen mit einem Kameraden zog er los, um die Sendung beglückt in Empfang zu nehmen. Die obligatorische Kontrolle auf dem Amt nach Schmuggelware musste wohl beobachtet worden sein. Auf der Straße wurden die beiden niedergerempelt. Blitzschnell war der Einzeltäter mit dem Paket verschwunden, Suche zwecklos. Als die beiden Opfer wenige Straßenzüge weiter in einem Geschäft etwas trinken wollten, glaubten sie, ihren Augen nicht zu trauen. Da stand der Räuber und breitete seine Beute gerade seelenruhig auf dem Ladentisch aus. Es gelang, einen Milizionär herbeizurufen. Der unterhielt sich auf aserbaidschanisch mit dem Täter, gab ihm dann den üblichen Bruderkuß, dem Besitzer das Paket zurück und zu gleichzeitig zu verstehen, daß damit die Sache ja erledigt sei. Zurückgekehrt meldeten beide den Vorfall. Nach Konsultation mit der sowjetischen Seite wurde der Raubüberfall zur Anzeige gebracht. Wie auch immer, der Täter wurde ermittelt. Ihm drohte eine hohe Haftstrafe. Die beiden Opfer hatten nun keine Ruhe mehr. Bei jedem Landgang warteten schon Angehörige des Täters vor dem Tor. Informationsquelle konnte nur die aserbaidschanische Fakultätsleitung gewesen sein. Mit Bestechungsangeboten, zuletzt auch mit Drohungen, versuchte man, die Anzeige abzuwenden. Selbst Dschafarow schaltete sich ein. Man könne einem jungen Menschen doch nicht wegen so einer Kleinigkeit das ganze Leben versauen. Hatte man ihm auch ein Backschisch angeboten? Der Täter wurde verurteilt. Die standhaften Kläger trauten sich dann auch wieder an Land und wurden in Ruhe gelassen.

Es war das ganze Jahr über der einzige Fall, von dem die Ekipash direkt betroffen war. Daß es allgemein Kriminalität gab und darin auch Verwaltung und Ordnungshüter verwickelt sein mussten, merkte man schon an den teuren westlichen Konsumgütern auf dem Basar, die nur aus Schmuggel stammen konnten und an organisierten Schiebereien mit Lebensmitteln. In regelmäßigen Perioden waren beispielsweise tagelang die Eier vom Markt und aus den staatlichen Geschäften verschwunden. Waren sie dann plötzlich wieder im Angebot, erschienen sie zuerst auf dem Markt und kosteten das Doppelte des normalen Preises. Trotzdem hamsterten die Menschen wie wild. War das Angebot gedeckt, konnte man Eier auch wieder billigin den Geschäften kaufen, bis nach kurzer Zeit die Auslagen leer waren und das Spiel von vorne begann. So etwas ist wohl nur mit mafiaähnlichen Strukturen zu organisieren.

Diese, der Vollständigkeit halber genannten, negativen Seiten sollen aber nicht den insgesamt angenehmen Eindruck trüben, mit dem Baku, als wir es näher kennen gelernt hatten, auf uns wirkte. Halb Europa, halb Orient. Es bleibt dabei. Schon diese faszinierende, quirlige Stadt war unsere lange Reise wert gewesen.

Freizeit

Beginnen wir mit den Freizeitmöglichkeiten innerhalb der Dienststelle. Es gab einen Kinosaal, eine Schwimmhalle, eine dem Leistungssport vorbehaltene und gut behütete Tennisanlage und kleinere Sportstätten für Volleyball, militärsportliche und leichtathletische Disziplinen.

Bei uns hatte sich eingebürgert, nach dem Mittagessen in der langen, nach südländischer Art eigentlich einer ausgiebigen Siesta vorbehaltenen Pause, Volleyball zu spielen. Selbst im Sommer fanden sich immer ein paar Verrückte. Der Platz war asphaltiert und war es besonders heiß, konnte man nach Absprung zum Schmetterschlag und Landung seine Schuhabdrücke im weichen Asphalt bewundern. Ein gefürchteter Spieler war „Eisenfaust“, der PV der zukünftigen „Berlin“, von der Natur mit gewaltiger Körperkraft ausgerüstet. Es waren weniger seine wuchtigen Schläge, vor denen man Angst hatte. Er bewegte sich auf der Jagd nach dem Ball recht ungestüm und ohne Rücksicht auf Verluste durch das eigene Feld. Die Gefahr dadurch einfach umgerempelt zu werden, war groß. Es war immer besser, wenn Eisenfaust auf der Gegenseite spielte. Volleyball war auch an den Wochenenden ein Renner.

Tauziehen vor internationalem Publikum

Selbstverständlich spielte auch Fußball eine Rolle. Außer untereinander, wurden Vergleiche mit sowjetischen Offiziersschülern und mit anderen Nationalitäten organisiert. Mal wurde gewonnen, mal verloren. Hauptsache es hatte Spaß gemacht. Wenn man von wenigen Sportfesten absieht, auf denen wir die hier möglichen Disziplinen der Fernwettkämpfe der NVA und fast immer Tauzieh-Wettbewerbe durchzogen, waren damit die Sportmöglichkeiten innerhalb der Dienststelle erschöpft. Halt, einen wahrhaft historischen Schwimmwettkampf KBBMKY – DDR haben wir vergessen. DDR das waren wir, und KBBMKY, das waren echte Leistungssportler, darunter sogar Meister des Sports der UdSSR. Über den Ausgang des Wettbewerbes brauchen wir nicht zu reden. Ertrunken ist von unserer Mannschaft aber keiner. Ausführlich hat Peter Müller über diesen denkwürdigen Wettkampf in unserer ersten KSS-Broschüre berichtet.

In die Freizeit fiel auch das Briefeschreiben. Briefe waren die wichtigste Verbindung zwischen uns und der Heimat. Per Luftpost waren sie trotzdem etwafünf Tage unterwegs. Telefonieren war nur vom Hauptpostamt in Baku aus möglich. Ratsam war,den Anruftermin vorher brieflich mit zu Hause abzustimmen. Man meldete sein Gespräch im Amt an und musste dann etwa eine Stunde warten, bis man aufgerufen und in eine freie Kabine geschickt wurde. Die Verständigung war meist gut. Mit Verspätung gab es gelegentlich in Baku auch die DDR-Zeitungen „Neues Deutschland“, seltener die „Junge Welt“ zu kaufen. Das sowjetische Fernsehen konnte man eher vergessen. Um zu wissen, was in der Welt los ist, wurde regelmäßig lediglich die Nachrichtensendung „Wremja“ geschaut. Nur ab und zu gab es Sportübertragungen, meist Fußball, oder auch mal einen interessanten Film. Zur Freizeitgestaltung gehörten bei Enthusiasten natürlich auch Skat- oder Doppelkopf-Abende. Gelegentlich wurden in diesen Disziplinen auch Turniere durchgeführt.

Typisch deutsche Feiertage, wie der 1. März als Tag der NVA oder Weihnachten wurden von der sowjetischen Führung akzeptiert und im Lehrplan auch so berücksichtigt. Organisierte Feiern, an deren Vorbereitung jeder nach Kräften mithalf, gab es dann in der Unterkunft. Das Alkoholverbot wurde an solchen Tagen etwas gelockert und das Zubereiten einer Bowle erlaubt. Daß diese dann entsprechend stark ausfiel, braucht wohl nicht extra betont zu werden. So ging es in größeren Gruppen wie Schiff 1, Schiff 2 oder Angehörige der Rückwärtigen Dienste recht locker und lustig zu. Die Offiziere des Stabes feierten in diesen Gruppen und achteten gleichzeitig ein bisschen auf Disziplin und Ordnung. Natürlich waren gerade Weihnachten oder Silvester die Gedanken auch bei den Angehörigen zu Hause, aber im Rudel und mit kräftiger Bowle ließ sich das Aufkommen von Schwermut besser bekämpfen. Silvester durften wir dreimal anstoßen – zuerst nach Ortszeit Baku, dann nach Moskauer Zeit und zuletzt, als die Uhren zu Hause in der DDR das Jahr 1977 anzeigten.

In der näheren Umgebung der Dienststelle – per Fußmarsch zu erreichen – lag ein kleiner Salzsee. Davon hatten uns die Offiziersschüler erzählt. Das sah schon lustig aus, wie die Badenden da bewegungslos und Zeitung lesend an der Oberfläche herumlagen. Der hohe Auftrieb des dichten Salzwassers machte das möglich. Das mussten wir auch probieren! Im Wasser ging es ja noch, wenigstens solange man keinen Spitzer der scharfen Brühe in den Mund oder gar in die Augen bekam. Ungemütlich wurde es beim Ausstieg. Das Salz kristallisierte sofort, da half auch kein Abtrocknen. Die Haut empörte sich dagegen, wurde rot und begann zu brennen. So schnell wie möglich zurück zur Schule und sofort unter die Dusche war die einzige Erlösung.

Station der Bakuer Metro

Aber Freizeit – das war in erster Linie doch Landgang. Trat man aus dem Tor der Dienststelle befand sich auf der gegenüberliegenden Straßenseite „Borjas Kiosk“, benannt nach seinem Betreiber. Da gab es gewöhnlich ein schales russisches Bier der Marke „Shigulewskoje“ und Würstchen, die zwar in der Form, nicht aber im Geschmack an unsere Wiener erinnerten. Mit Erstaunen beobachteten wir, daß die Hiesigen die schwache Blume auf dem Bier mit einer Prise Salz bestreuten. Damit sich  der Schaum länger hält, wie 23 man uns erklärte. Eine Sensation war es, als sich einmal echtes tschechisches Pilsner auf welch verschlungenen Wegen auch immer zu Borjas Kiosk verirrt hatte. Dieses Ereignis sprach sich unter uns Deutschen wie ein Lauffeuer herum und so war das köstliche Naß auch in kürzester Zeit aufgebraucht. Ein kurzer Aufenthalt am Kiosk fiel meist dann an, wenn man auf Busabfahrt oder Taxi nach Baku etwas warten musste, denn Landgang – das hieß in erster Linie doch Baku. Die Anlässe dafür waren verschiedenster Art. Einfach mal ein Stadtbummel mit gutem Essen, Einkauf, eine Theater- oder Ballettaufführung, ein Museum, eine Veranstaltung im Kulturpalast, ein Telefonat nach Hause, das Abholen eines Paketes von der Post.

In die Stadt gelangte man entweder mit dem Linienbus oder per Taxi. Erschwinglich war beides. Die Busfahrt kostete nur Kopeken. Als Taxis fuhren mehr oder weniger betagte „Wolgas“. Der Fahrer verlangte für die ca. 15 Km einen Rubel – pro Person. Also wartete er bei jeder Hin- oder Rückfahrt darauf, daß seine Fuhre möglichst voll wurde. Besonders an den Wochenenden, wenn es auf 24 Uhr zu ging und die Landgänger in Scharen zurück nach Süch drängten, wurden wahre PassagierRekorde, verdächtig für jede Wetten-Daß-Sendung,aufgestellt. Diese Nachtfahrten hatten noch eine zweite, abenteuerliche Seite. Aus unerfindlichen Gründen fuhren die Taxis meist nur mit Standlicht und von vielen Gullylöchern auf den Straßen fehlten aus ebenso unerfindlichen Gründen die Deckel. Ein Wunder, daß da nie etwas passiert ist. Die schlitzohrigen Taxi-Fahrer gehörten theoretisch alle zu Genossenschaften, nahmen es aber mit den Abrechnungen nicht so genau. „Mein Auto hat vier Räder“, war das Motto. „Davon arbeiteten zwei für den Staat und zwei für mich.“ Es sollen auch jede Menge Schwarz-Taxis unterwegs gewesen sein. Gelegentliche Razzien der Polizei hatten immer nur kurzzeitig Erfolg. In der Stadt selbst, war dann die moderne U-Bahn das schnellste Transportmittel. Pikfein, marmoriert und blitzsauber die Bahnhöfe der Bakuer Metro.

Für Landgänge war Zivil befohlen. Wir sollten als ausländische Militärs nicht unnötig auffallen. So saßen am 1. März – dem Tag der NVA – ACH, sein Leiter Politabteilung und der Stabschef im bequemen Freizeitlook im alten Intourist-Hotel und gönnten sich ein opulentes Mittagsmahl in gepflegter Atmosphäre. Die wurde jäh gestört. Kommandant, PV und I.WO der späteren „Rostock“ betraten das Restaurant – in voller Paradeuniform, also mit großer Ordensschnalle, Schärpe und Dolch. Das gab ein Aufsehen! Sofort stürzte sich der Oberkellner auf die „hohen“ Gäste und geleitete sie an den besten Tisch. Kurzer Wortwechsel mit dem Kommandanten und schon standen die Wimpel der UdSSR, der DDR und Aserbaidschans auf dem Tisch. Drei Kellner schwänzelten ständig um die neuen Gäste herum, auf Kosten der Bedienung der anderen. Der Chef kochte. Aber er beherrschte sich und die deftige Aussprache gab es erst am Folgetag in der Dienststelle.

Wenn es um Einkäufe ging, handelte es sich in den Selbstverpfleger-Gruppen in erster Linie um Obst, Gemüse und Lebensmittel. Kartoffeln, Tomaten, Gurken, Melonen, Brot, Zwiebeln, Butter, Käse, Eier, Zucker, Salz, allerlei Gewürze und Fischkonserven waren in guter Qualität und (meist) preisgünstig zu erstehen. Wir erlernten die drei Methoden, mit denen sich der Reifegrad einer Melone prüfen lässt: sie sollte a) nicht mehr steinhart sein, b) beim Abklopfen etwas dumpf klingen (als hätte sie einen kleinen Hohlraum) und c) an das Ohr gehalten und gepresst durch ein leichtes Geräusch anzeigen, daß sich Saft durch das Fruchtfleisch presst. Besonders letztere Methode heutzutage und hier im Supermarkt praktiziert, würde wohl mitleidige Blicke anderer Kauflustiger provozieren. Fleisch leisteten wir uns selten. Meist war nur Hammel im Angebot, seltenerRindfleisch und fast gar nicht Schwein. Ein zweites Hindernis war die Verkaufskultur. Was da an großen Haken hing, sah aus, wie mit der Kettensäge vom gefrosteten Tierkörper abgetrennt. Haut und Sehnen bammelten daran herum und im heißen Sommer drangen Fliegen auch in gekühlte Verkaufsräume ein, von den Fleischständen auf dem Markt ganz zu schweigen. Tee in verschiedensten Variationen wurde bei uns früh und abends zum Hauptgetränk, denn der im Angebot befindlicheKaffee schmeckte nicht besonders. Deshalb war es immer ein besonderer Genuß, wenn dann einmal ein Paket von zu Hause den guten Rondo oder Mona enthielt.

Viel gekauft wurde auch Werkzeug, preiswert und inrobuster russischer Qualität. Es gab manches, was zu Hause nur selten zu erstehen war. Elektrogeräte wie Bohrmaschinen, elektrische Farbsprühgeräte oder Mini-Kaffeemaschinen für zwei Tassen waren besondere Renner. Beliebte Souvenirs waren Samoware, folkloristisches Teegeschirr und –besteck, Matrjoschkas in allen Größen, russisches Volkskunst-Holzgeschirr, dazu Löffel aller Formen und Größen, von Farbe und Motiven her zum Geschirr passend. Als Wandschmuck gab es kunstvoll in Kupfer getriebene Motive der Stadt Baku wie Mädchenturm oder Karawanserei. Das findet man heute noch in vielen Wohnzimmern der damaligen Lehrgangsteilnehmer. Für die Kinder zu Hause wurde nach Spielzeug gesucht und für die Damenwelt nach Goldschmuck. Das Angebot war riesig und Gold war damals noch äußerst preiswert. Erst im Verlaufe des zweiten Halbjahres gab es eine erhebliche Preissteigerung. Beliebte Landgangsziele waren die beiden Intourist-Hotels. Hier konnte man gelegentlich auch fast „europäisch“ essen. Die Speisekarte war mehrsprachig – manchmal sogar mit deutscher Übersetzung. Die Übersetzer waren entweder Spaßvögel oder der deutschen Sprache nicht mächtig. Da wurden die abenteuerlichsten Speisen angeboten. Der Höhepunkt war „Gruftuhu“. Im Vergleich mit der russischen Variante der Speisekarte muß es sich dabei um Huhn gehandelt haben. Im neueren Intourist, am Leninplatz gelegen, fanden öfter Tanzveranstaltungen statt. Sie waren aber meist nur von Männern besucht und es tanzten auch nur Männer miteinander – oder einzeln. Höchstens als Zuschauer wurden einige der unwürdigen, laut Koran unreinen Weiblichkeiten geduldet. In dieser Frage hatte Lenin Mohammed nicht aus dem Felde schlagen können. Die Arme wie Flügel schlagend, bewegten sich die stolzen Machos über das Parkett. So hießdieser eigenartige Tanz denn auch „Adlertanz“. Als wir aufgefordert wurden mitzutanzen, suchten wir lieber das Weite.

Neftjannije Kamny –eine Erdölstadt im Meer

Zentral von der Schule wurden einige Exkursionen organisiert. Eine davon führte nach „Newtjannije Kamny“, was übersetzt soviel wie Erdöl-Steine heißt. Die Erdölförderung an Land wurde immer aufwendiger und damit teuer, aber unter dem Kaspischen Meer waren neue, große Felder entdeckt worden und so hatte man Förderanlagen mitten in das flache Wasser gestellt. Mit dreistündiger Fahrt vom Hafen Baku aus brachte uns ein Schlepper ans Ziel. Schon von weitem waren die Fördertürme zu erkennen, dann die hölzernen Straßen auf stählernen Stelzen, welche die Türme, Pumpen, Garagen, technischen Anlagen, Aufenthaltsgebäude des Personals und die Anlegestellen für Tanker, Schlepper und Feuerlöschboote miteinander verbanden. Auch Feuerwehren standen auf extra angelegten Plattformen am „Straßen“-Rand für den Katastrophenfall bereit. Nach dem Anlegemanöver des Schleppers erfolgte das Umsteigen in einen Bus und los ging es mit ziemlich rasanter Fahrt, das Meer so etwa zehn Meter unter uns und nicht jede Straße hatte ein Geländer. Das hätte sowieso nichts genutzt. Das ausgeklügelte Verkehrs-System bestand aus zweispurigen und aus Einbahnstraßen. Es war so gebaut, daß es auch schwersten Stürmen trotzen konnte. Bei verschiedenen Halts erklärte man uns die Funktion der Förderanlagen und den Transportweg des Öls auf dem Seeweg oder über Pipelines. Es gab Verwaltungsgebäude, Gewächshäuser, ein Klubhaus mit Kinosaal und im Zentrum der „Stadt auf Stelzen“ hatte man sogar einen kleinen Park mit viel Grün, mit Bänken und lauschigen, schattigen Eckchen angelegt. Betreut von medizinischem Personal, Köchen und anderen Hilfskräften blieben die Arbeiter jeweils eine Woche draußen und arbeiteten in zwei 12-Stunden-Schichten. Ein Knochenjob, aber gut bezahlt. Dann hatten sie eine Woche frei. Da die Sonne auf der Rückfahrt nur so auf das Oberdeck des Schleppers knallte, brachten wir nicht nur tiefe Eindrücke von dieser Exkursion sondern einige auch einen kräftigen Sonnenbrand mit zurück zur Schule.

Eine andere Exkursion führte in die Steinwüste von Kobustan. Am Rand dieser Wüste liegt die Stadt Kuba, etwa 200 km nordwestlich von Baku. Es ist kaum Vegetation zu sehen. Wir werden vor Schlangen gewarnt. Seltsam geformte Felsen, Geröllfelder und Höhlen erstrecken sich über ein riesiges, unübersichtliches Terrain. Kein Wölkchen am Himmel und die Sonne heizt die Felsen auf. Auf schmalen, unwirtlichen Pfaden geht es zu Fuß weiter in die Wüste hinein. Felszeichnungen von Urmenschen zeigt man uns, Tausende von Jahren alt. Angeblich soll sogar der russische Volksheld Stefan (Stjenka) Rasin, der 1670/71 im Wolga-Don-Gebiet eine Kosaken- und Bauernerhebung gegen die Kulaken angeführt hatte, auf der Flucht vor seinen Verfolgern hier in Kobustan Unterschlupf gefunden haben. Als wir dann ziemlich knülle wieder bei unseren Bussen ankommen, haben die sich ähnlich aufgeheizt wie die Felsformationen. Eine Klimaanlage gibt es nicht. So ist auch die Rückfahrt noch eine Tortur.

Mit Bademöglichkeiten am Strand sah es um Süch und auch um Baku nicht gut aus. Wenn man überhaupt von Stränden sprechen konnte, waren diese ölverschmutzt. Fuhr man mit der Elektritschka zum Nordstrand von Apscheron fanden sich zwischen Schuweljan und Pirschaga ordentliche Badestrände mit hellem, feinen Sand. Wir hatten aufein paar Badenixen gehofft, doch damit sah es trist aus. Die prüden Ansichten der Einheimischen bezüglich der weiblichen Bademoden machten Bikinis unmöglich. Geschlossene Badeanzüge, ja nicht zu knapp, waren das höchste der Gefühle. Ältere Mütterlein stiegen sogar mit kompletter Unterwäsche ins Wasser. Ein schrecklicher Anblick, wenn sie wieder zurück kamen und das nasse Unterzeug an den schlaffen Körpern klebte. Vor kleinen Erdölklümpchen war man aber auch an diesen Stränden nicht sicher. Sie hatten sich mit einer dünnen Sandkruste getarnt. Trat man drauf, klebte das schmierige Zeug so fest am Fuß, daß es selbst mit Sand nicht abzurubbeln war. Zurück in der Schuleverhalfen nur heißes Wasser und jede Menge Seife wieder zu sauberen Füßen.

Tempel der Feueranbeter

Ein bekanntes Ausflugsziel in der näheren Umgebung von Baku war der Tempel der Feueranbeter. Es sollte sich um eine uralte Kultstätte handeln. Schon wenn man sich den noch erhaltenen Resten des ehemaligen Gebäudekomplex nähert, spürt man einen immer stärker werdenden Erdöl-Geruch, der einem aus kleinen schwarzen Quellen, Pfützen und Spalten entgegen schlägt. Im Tempel selbst tritt an einer besonders dafür hergerichteten Stelle Erdgas aus und speist eine ewige Flamme. Leider war über Alter, Ursprung und frühere Bedeutung dieses Ausflugzieles nur wenig zu erfahren.

Einmal ist Schluß

Nach fast einem halben Jahr Spezialausbildung – im März 1977 – begannen die Abschlussprüfungen und zogen sich bis zum Ende des Monats hin. Dann war die Schinderei zu Ende. Im Saal der Dienststelle überreichte der Schulleiter persönlich bei einer feierlichen Veranstaltung jedem sein Zeugnis. Der ACH verteilte Abschiedsgeschenke an die Honoratioren der Schule, die Fakultätsleitung und die Lehrstuhlleiter. Rechtzeitig damit versorgt hatte ihn das Kommando der Volksmarine. Einiges war auch selbst hergestellt worden, wie die eingangs erwähnten Eichenholz-Krüge mit KSS-Silhouette und dem Wappen der Stadt Rostock. Schon Tage vorher hatte ihn Dschafi wegen der Geschenke pausenlos genervt. Er wollte unbedingt wissen, was denn so verteilt werden sollte und wer etwas bekommt. Immer wieder machte er auf die Wichtigkeit seiner eigenen Dienststellung aufmerksam und das der oder der nicht etwas Wertvolleres bekommen dürfe, als er selbst.

Dann ging es ans Packen. Überflüssiges wurde unter die Offiziersschüler verteilt. Wir erhielten unsere Reisedokumente. Per Bus und LKW ging es nachtsin Richtung Flughafen. Zum letzten Mal passieren wir das Tor der Schule. Im Dunklen ist von Süch und der Stadt nicht viel zu sehen. Reibungslos die Gepäckabgabe und das Einchecken. Eine Il-18 – wohl wegen ihres einmaligen Platzangebotes auch „Straßenbahn der Lüfte“ genannt – wird uns nach Moskau bringen. Von dort geht es weiter nach Berlin-Schönefeld.

Die vier Turboprop-Triebwerke heulen auf. Die Verabschiedungs-Delegation winkt mit den Mützen. Die Maschine rüttelt über die Piste, wird schneller und schneller. Jetzt hebt sie ab und gestattet einen letzten Blick über das Panorama der Lichter der Stadt. Das Flugzeug geht mit elegantem Bogen auf Nordkurs. Doswidanija, Baku! Es war nicht leicht, aber Du warst uns eine gute Gastgeberin. Wir werden Dich nie vergessen.